Nicht einmal eingefleischte KennerInnen von Burgers Werk wissen in der Regel um die Existenz des Lokalberichts. Dabei ist dieser frühe Romanversuch insofern eine kleine Sensation, als er gewissermassen eine Vorwegnahme des späteren Burger darstellt. Der Text weist nämlich so ziemlich sämtliche Merkmale auf, für die der exzentrische Schriftsteller nach seinem Durchbruch mit Schilten (1976) berühmt werden sollte, und lässt sich folglich als eine Art Experimentierfeld des jungen Autors betrachten.
Text
Resultat eines sukzessive perfektionierten Montageverfahrens, tanzt der dreiteilige Roman auf dem Rand der Unterscheidung real-irreal und ist hochgradig intertextuell, metapoetisch sowie gattungsspezifisch schillernd zwischen Schlüssel-, Campus-, Stadt-, Schelmen-, Künstler-, Entwicklungs- und (ironischem) Bildungsroman. Dessen autofiktiver Ich-Erzähler – ein Germanist mit dem sprechenden Namen Günter Frischknecht – sitzt im hochsommerlichen Tessin und schreibt simultan eine Dissertation über Günter Grass an der Universität Zürich und einen zur Jahreszeit des Maienzugs spielenden Roman rund um das Wahrzeichen von Aarau: den Obertorturm.
Das Durcheinander ist vorprogrammiert. Frischknecht reibt sich beim Schreiben förmlich auf zwischen der eher konservativen Lehre seines Doktorvaters Professor Kleinert (aka Emil Staiger), den etwas progressiveren Maximen des Literaturkritikers Felix Neidthammer (aka Anton Krättli) und der von ihm selbst idealisierten‚ 'Poetik' des Lokalredaktors Barzel (aka Ulrich Weber, * 1940, damals Redaktor beim Aargauer Tagblatt). Einer Zeitung gleich besteht denn auch der Lokalbericht aus einem Mosaik verschiedener Einzeltexte, die Burger wiederholt überarbeitet und schliesslich zu einem Puzzle zusammengesetzt hat, in dem fortwährend das eigene Produktionsverfahren thematisiert wird.
← Hermann Burger: Golattenmattgasse mit Obertorturm, Aarau (Aquarell, 36 x 24 cm; 1959).
Korpus
Hermann Burger war ein akribischer Archivar seiner selbst. Er bewahrte die diversen Vorstufen seiner Texte (avant-texte) ebenso auf wie etwa die bei der Arbeit verwendeten Materialien (Zeitungsauschnitte, Kopien aus Büchern etc.) oder die Durchschläge seiner Briefe. Dementsprechend umfangreich ist sein Nachlass im Schweizerischen Literaturarchiv, und auch im Fall des Lokalberichts präsentiert sich die Materiallage deshalb äusserst opulent: Überliefert sind nämlich nicht nur die 177 Typoskript-Seiten des hauptsächlich im Sommer 1970 entstandenen Romans, sondern überdies die zahlreichen Varianten von dessen 'Mosaiksteinen' (z.B. von Die Illusion) oder Burgers Korrespondenz aus der Entstehungszeit. Das zu edierende Korpus umfasst insgesamt somit rund 550 Textträger, bei denen es sich überwiegend um einseitig beschriebene Typoskripte mit spärlichen maschinellen Sofort- und/oder handschriftlichen Spätkorrekturen handelt.
Stemmatologische Darstellung des Lokalbericht-Textkorpus. → |